Ein Dorf, das es nicht mehr gibt, das unter dem Wasserspiegel liegt, von dem nur noch der Kirchturm wie eine Ikone aus dem Reschensee schaut. Graun im Obervinschgau in Südtirol – geflutet 1950, der Reschensee und der aus dem Jahr 1355 stammende Glockenturm sind heute eine bedeutende Sehenswürdigkeit.
Auf Marco Balzanos Roman ist ein Foto dieses aus dem See ragenden Turms zu sehen. Und tatsächlich geht es um die in den 50er-Jahren durchgeführte spektakuläre Flutung, aber es geht noch um viel mehr.
Vielschichtige Geschichte
Balzano erzählt eine Familiengeschichte, eine Kriegsgeschichte, eine Gesellschaftsgeschichte an der Schnittstelle und Bruchstelle zweier Länder, er geht in die europäische Geschichte und er erzählt auch die Geschichte von skrupelloser Obrigkeit, von dagegen aufgebrachter Standhaftigkeit. Eigentlich, und das vorweg, erzählt er viel zu viel. Doch wenn man genau das akzeptiert hat, liest man ein wunderbares Buch. In dem fast ein ganzes Jahrhundert durchmessen wird an einem besonderen Ort, nämlich jenem Bergdorf Graun.
Rätselhaftes Verschwinden der Tochter
Balzanos Heldin heißt Trina, ist eine junge Lehrerin die mit dem Zweiten Weltkrieg zu den sogenannten Optanten gerechnet wird, jenen Menschen, denen frei gestellt wurde entweder ihre Heimat zu verlassen und ins Deutsche Reich zu wechseln oder in Südtirol zu blieben und italienisiert zu werden.
Trina bleibt mit ihrem Mann Erich in Graun, doch ihre kleine Tochter Marcia verschwindet. Es sei absichtlich nicht verraten, wohin und mit wem, denn dies ist lange eines der verstörenden Rätsel des Romans. Trina und ihr Mann Erich jedenfalls sind so traumatisiert, dass Erich manisch sucht und Trina anfängt zu schreiben, als Ich-Erzählerin Briefe zu verfassen an ihre Tochter, um ihr zu berichten, was der Familie über die Jahre zustößt.
Krieg im Grenzgebiet
Die Kriegsjahre in Südtirol, einer besonderen Gegend, die zwischen Italien und dem Deutschen Reich lavieren musste, sind als Jahre der Entbehrung beschrieben. Wie immer, wenn man als Nachgeborene vom Krieg liest, gibt es eine Ebene der Unvorstellbarkeit, der schrecklichen Phantastik, die das Geschehen bestimmt.
Erich und Trina gehen irgendwann in Berge, um den Soldaten zu entkommen, und da hausen sie mit anderen Flüchtlingen in Heuschobern und Unterständen, haben kaum zu essen, es ist kalt und grausam und sie entkommen nur durch einen Zufall der Hinrichtung.
Skrupelloser Akt der Flutung
Als dann nach dem Krieg alles wieder gut sein könnte, als sich das Dorf und seine Bewohner wieder berappeln, als man die Suche nach der Tochter wieder aufnehmen könnte – da naht plötzlich dieser unglaublich skrupellose Akt der Flutung. Die Bauarbeiten dafür hatten schon vor dem Krieg angefangen, von Deutscher Seite, wurden dann gestoppt – und nun steigen die Italiener ein und treiben den Staudamm voran.
Das Schlimme und auch die historische Schuld besteht darin, dass die Dorfbewohner von der italienischen Regierung völlig im Unklaren gelassen wurden. Sie mussten von heut auf morgen aus den Häusern als das Wasser kam, sie hatten nicht mal die Chance ernsthaft zu protestieren.
Vom Hierbleiben
Wie nun passen diese beiden Katastrophen, Krieg und Staudamm, zueinander ohne dass der Roman in zwei Teile auseinander fällt? Dies gelingt Balzano durch das durchgezogenes Thema der Resilienz, also der Widerstandskraft. Man fragt sich permanent, weshalb die Menschen im Dorf verbleiben und nicht Reichsbürger werden, genau wie man sich fragt, wieso sie denn in Graun bleiben, wo doch das Wasser kommt und das Dorf versinken wird. Wieso gehen sie nicht ganz weg, sondern ziehen in eine quasi aus Pappe gebaute Neubausiedlung, die der Staat ein paar Meter weiter höher den Hang hinauf errichtet?
Wie schwierig es ist, Menschen zu bewegen, wie schwer es für Menschen ist, sich selbst zu bewegen, das steckt bereits im Titel des Romans: "Ich bleibe hier". Der Roman erklärt es bestechend durch eine dreifache Bewegung, fast wie auf einer Murmelbahn: Trina und Erich werden in der Kriegsflucht den Berg hinaufgetrieben und rollen wieder zurück, sie werden von den Fluten des Reschensees wieder den Berg hinauf gerollt – dort bleiben sie, aber auch nicht … denn eigentlich sind sie die Murmeln im See, versunken, genau wie ihr Dorf, wie ihre Erinnerung, wie die kollektive Erinnerung. Und dann kommt dieser Autor, Balzano, der nach diesen Murmeln taucht, sie herausholt, abtrocknet – und lässt sie glitzern mit seinem Roman.
Versöhnliches Buch
In Italien wurde das Buch übrigens von den Südtirolern als Zeichen der Versöhnung gesehen, indem ein Mailänder über diese offene Wunde im Vinschgau schreibt.
Die Literaturgeschichte der versunkenen Städte und Dörfer fängt vielleicht beim Mythos von Atlantis an und reicht in der Gegenwart bis zu Texten wie "Das Werk" von Elfriede Jelinek oder Christoph Ransmayrs "Kaprun" und ganz aktuell Romanen wie Annika Scheffels "Bevor alles verschwindet".
Das Versinken von Dörfern ist heutzutage gekoppelt an die Geschichtsschreibung der Energiegewinnung – man muss sich nur die Tagebaue in der Lausitz ansehen, im Ruhrgebiet. Verschwundene Orte unter Stauseen gehören zu unserer Zeit. Und unter all den Texten, die es grade gibt, die gern auch etwas experimentell sind, hat Balzano eine doch sehr klare und, nunja, zu Herzen gehende Geschichte gefunden. Die dies aber zu Recht tut, denn sieht man sie auch als Versöhnungszeichen, sollte sie ein großes Publikum finden. Einfache Worte für ein wahrlich großes und komplexes Thema, eine mitreißende Geschichte und eine klare Sprache, übrigens auch in bewährter Übersetzung von Maja Pflug – all das ist überzeugend und einnehmend. Eine wahrlich empfehlenswerte Sommerlektüre, vielleicht nicht grade am See.
Das Buch Marco Balzano: "Ich bleibe hier"
aus dem Italienischen von Maja Pflug
288 Seiten, 22 Euro
ISBN: 978-3-257-07121-4
Diogenes Verlag
July 28, 2020 at 09:01AM
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"Ich bleibe hier" von Marco Balzano – Buchkritik von Katrin Schumacher - MDR
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das Dorf
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