In der kleinen Emmauskirche in Borna sind auf einer Tafel fast 100 Jahre Bergbauschicksal im Leipziger Revier dokumentiert. Dort sind 66 devastierte Orte aufgelistet, Dörfer also, die ganz oder teilweise in den Braunkohletagebauen versunken sind. Als letztes kam 2008 Heuersdorf dazu.
Die Emmauskirche wurde zuvor von dort in einer ebenso spektakulären wie symbolischen Aktion in die Stadt Borna versetzt. Auf der Tafel ist kein Platz mehr. Aber der Braunkohleabbau läuft noch immer. Der nächste Dorfname wäre Pödelwitz geworden. Doch dort werden nach dem beschlossenen Kohleausstieg optimistische Pläne geschmiedet.
Jens Hausner sitzt unter einem Sonnenschirm in seinem Vierseitenhof in Pödelwitz. Sein Dorf und Heuersdorf trennten einst nur vier Kilometer, der Tagebau Vereinigtes Schleenhain ist nur 500 Meter vom Ortsrand entfernt. Der Sprecher der Bürgerinitiative "Pro Pödelwitz" ist ent- und angespannt zugleich. "Ich bin ganz sicher, dass das Dorf erhalten bleibt", sagt der 54-Jährige. Die Pödelwitzer haben ein Maßnahmepapier zusammengestellt, mit dem ihr gerettetes Dorf zum "Vorzeigeprojekt des Strukturwandels" werden soll.
Die schwarz-grün-rote Landesregierung in Sachsen habe sich im Koalitionsvertrag zu Pödelwitz bekannt, betont Hausner. Der Kohleausstieg ist inzwischen Gesetz, das Kraftwerk Lippendorf, das die Kohle aus Schleenhain verbrennt, soll 2035 abgeschaltet werden - fünf Jahre eher als der Tagebau planmäßig laufen sollte. Die Kohle unter Pödelwitz werde nicht mehr gebraucht, sagt Hausner. Falls es doch noch anders käme, sei man aber bereit, sich "bis zum Europäischen Gerichtshof durchzuklagen".
Dabei ist Pödelwitz längst ein verletztes Dorf. Der Bergbaubetreiber Mibrag hat Fakten geschaffen. 2012 wurden Umsiedlungsverträge unterzeichnet. 80 Prozent der Pödelwitzer nahmen das Angebot an, verkauften an die Mibrag und zogen weg, viele in die Stadt Groitzsch, zu der Pödelwitz gehört. Vor den verlassenen Anwesen hat die Mibrag Schilder aufgestellt. "Privatgelände!" steht darauf und eine schwarze Hand in rotem Kreis warnt vor dem unbefugten Betreten. Nur noch acht der 40 Grundstücke in Pödelwitz sind bewohnt.
Hausner ist trotzdem zuversichtlich. "Wir waren mal nur noch 25. Jetzt sind wir 35", sagt der Landwirt. Vor anderthalb Jahren kam die Initiative "AAA Pödelwitz" ins Dorf - junge Leute aus der Klimabewegung, die sich in Bauwagen neben der Kirche eingerichtet haben. Sie wollten die Dorfgemeinschaft bei der Entwicklung unterstützen, sagt Nia (25). "Das ist erst der Anfang. Ich denke mal, das geht jetzt relativ schnell", sagt Hausner. Jedes Wochenende liefen Familien durch den Ort und schauten sich die verlassenen Häuser an.
Die Geschichte, die Pödelwitz jetzt wahrscheinlich bevorsteht, hat es ganz in der Nähe schon einmal gegeben. Keine zwölf Kilometer Luftlinie entfernt liegt Dreiskau-Mucken, ein Dorf das beinahe auch auf der Tafel in der Emmauskirche gelandet wäre. Es sollte für den Tagebau Espenhain in Anspruch genommen werden.
Noch zu DDR-Zeiten wurden die Bewohner enteignet. "Unter erbärmlichen Bedingungen", wie Andreas Möbius, Inhaber einer Kfz-Werkstatt, sagt. Aber Espenhain wurde gestoppt, 1996 konnten die Menschen ihre Grundstücke über eine eigens gegründete Gesellschaft zurückkaufen. Taugt Dreiskau-Muckern als Vorbild für Pödelwitz?
Das Dorf sieht schmuck aus. Es gibt Handwerksbetriebe, Ateliers und ein kleines Café. Eine Gestaltungssatzung macht Vorgaben zu Traufhöhen, Farben und Hausdächern. 2000 war Dreiskau-Muckern Expo-Projekt, auch den Titel "Schönstes Dorf in Sachsen" hat es schon eingeheimst. Aus der Mondlandschaft des Tagebaus Espenhain ist der Störmthaler See geworden, ein strahlend blauer Badesee.
Der 60-jährige Möbius blickt derzeit trotzdem kritisch auf seinen Heimatort. "Das was wir uns erhofft haben, ist nicht eingetreten", sagt er. Nur etwa zehn Prozent der alten Dreiskau-Muckerer hielten durch oder kamen zurück, der große Rest kam neu dazu. "Es sind Bürger aus der großen Stadt zugezogen, die gestalten das Dorf nach ihren Vorstellungen", sagt Möbius. Mit den meisten komme er gut aus, aber es gibt eben auch Knatsch - etwa um die weitere Entwicklung des Sees.
"Wir sind natürlich immer froh gewesen, dass das Dorf wiederbesiedelt wurde", sagt der 60-Jährige. Der Tagebau habe ihm ein Stück seiner Heimat genommen. An Magdeborn, das 1980 aufgegeben wurde, habe er nichts als Erinnerungen. Aber es sei eben problematisch, die Leute zusammenzuwürfeln. "Zum Dorf gehören nicht nur Häuser und Straßen, sondern auch Menschen. Und zwar Menschen, die zum Dorf passen."
Viel versöhnlichere Töne schlägt dagegen Gabriela Lantzsch an. Sie hat die Entwicklung seit den 90er Jahren begleitet und ist seit 2001 Bürgermeisterin von Großpösna, zu dem Dreiskau-Muckern gehört. "Das Ziel war damals, kein reines Schlafdorf zu bekommen." Die Grundstücke seien relativ preiswert verkauft worden, damit die Menschen noch Spielräume hatten, etwas auf die Beine stellen zu können. "Wir hatten Tischlereien, einen Lehmbauer, eine Friseurin. Es sind eine ganze Menge Leute gekommen, die das Dorf mit Leben gefüllt haben", findet Lantzsch.
Rückblickend bilanziert die Physikerin, dass die Neubesiedlung in Wellen verlaufen ist. Die Aufbauphase mit den Grundstücksverkäufen sei anstrengend gewesen. "Die zweite Welle war wunderbar integriert, da ist uns vieles gelungen." Und jetzt gebe es eben eine dritte Welle, die wieder etwas schwieriger sei. "Wenn man ein Dorf neu besiedelt, kommt jeder mit eigenen Vorstellungen. Da muss man eben viel reden", sagt Lantzsch.
In Pödelwitz setzt Jens Hausner dagegen gerade auf frischen Wind. Die Dorfbewohner, die damals das Angebot der Mibrag angenommen haben, seien "mit wehenden Fahnen" gegangen. "Die waren froh, dass sie umsiedeln durften. Diesen Riss hätte man nie mehr kitten können. Für uns ist es wichtig, dass neue Leute kommen und sich integrieren. Wir waren eine ziemlich familiäre Dorfgemeinschaft und wären froh, wenn es nach einer Wiederbesiedlung so bleibt."
Noch steht es aber nirgends schwarz auf weiß, dass Pödelwitz bleibt. Das Dorf ist weiter im Braunkohleplan verankert. Der Satz zu Pödelwitz im Koalitionsvertrag beschreibe "den politischen Willen der Koalitionspartner", das Dorf zu erhalten, teilt das Wirtschaftsministerium in Dresden mit. "Die Entscheidung ist zuallererst eine Entscheidung des Unternehmens."
Die Mibrag mag noch keine konkrete Aussage zur Zukunft von Pödelwitz treffen. Das Kohleausstiegsgesetz sehe keine Entschädigung für eine Laufzeitverkürzung der Tagebaue vor, teilt das Unternehmen mit. "Wir erwarten von der Bundesregierung, dass auch für Mibrag eine faire Kompensationslösung gefunden wird." Erst danach könne das Braunkohleunternehmen seine Pläne anpassen. (dpa)
July 21, 2020 at 03:32PM
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Kohle-Aus: Pödelwitz erfindet sich neu - Sächsische Zeitung
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das Dorf
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